Die Mutter hatte mit ihrem vierjährigen Sohn die Leipziger Straße in Berlin-Mitte fast überquert, als sie von einem Auto erfasst wurden: Nach dem tödlichen Unfall steht ein 84-Jähriger vor dem Amtsgericht Tiergarten. Er soll an einer Ampel wartende Autos auf der Busspur und dann auf dem Radstreifen überholt haben – mit bis zu 90 Kilometern pro Stunde. Der Senior äußerte sich im Prozess wegen fahrlässiger Tötung in zwei Fällen und fahrlässiger Körperverletzung in fünf Fällen Bedauern. Es tue ihm unendlich leid, erklärte er. An den Unfall habe er allerdings keine Erinnerung.
Der Senior soll am Vormittag des 9. März 2024 zunächst die Busspur befahren haben. Statt der dort erlaubten 30 Kilometer pro Stunde soll er auf 70 bis 90 Kilometer pro Stunde beschleunigt haben. Er sei dann weiter auf einem markierten Radweg gefahren, um im Stau stehende Fahrzeuge zu überholen. Mit 89 Kilometern pro Stunde soll er die Mutter und ihren im Kinderwagen sitzenden Sohn erfasst haben, die die Straße überqueren wollten. Fünf weitere Menschen seien verletzt worden.
Gutachten: Ungebremst auf Mutter und Kind zugerast
Die 41-Jährige war mit ihrem Lebensgefährten und ihrer Schwester unterwegs. Die Familie aus Belgien wollte die Leipziger Straße auf der Höhe der Mall of Berlin überqueren. Während der Mann und die Schwester den Gehweg auf der anderen Straßenseite bereits erreicht hatten, befand sich die Mutter mit dem Buggy-Kinderwagen noch an der Bordsteinkante, als der Angeklagte auf der Radspur laut Gutachten ungebremst auf sie zugerast sei. Die 41-Jährige und ihr Sohn starben kurze Zeit später in einem Krankenhaus.
Der 42-jährige Mann und die Schwester der 41-Jährigen erlitten einen Schock. Die Familie war den Angaben zufolge für einen touristischen Kurzbesuch in Berlin. Der Feuerwehrmann und die Schwester sind im Prozess Nebenkläger. «Sie sind aber nicht in der Lage, persönlich zu erscheinen», sagte ihr Rechtsanwalt. Nebenkläger ist zudem ein 64-jähriger Tierarzt, dessen Auto angefahren worden war.
Rentner: Gesundheitlich nicht beeinträchtigt gefühlt
Der angeklagte Witwer erklärte weiter, er wisse nur noch, dass er im Stadtteil Marzahn ins Auto gestiegen sei, um zum Grab seiner verstorbenen Frau zu fahren. Die nächste Erinnerung sei, dass jemand die Tür seines Fahrzeugs geöffnet habe. Bei Fahrtantritt habe er sich gesundheitlich nicht beeinträchtigt gefühlt. Täglich müsse er an das Geschehen und die Opfer denken, so der Witwer. Er sei seit 1963 als Kraftfahrer im Fernverkehr tätig gewesen, sei ohne Vorbelastungen. Seinen Führerschein hatte der 84-Jährige nach dem Unfall freiwillig abgegeben.
Zeugen schilderten im Prozess, plötzlich sei ein Auto «regelrecht angeschossen gekommen». Der Tierarzt sagte: «Ich sah den Wagen im Rückspiegel, dachte noch, ich müsse irgendwas machen, da hat es auch schon geknallt.» Er habe einen schlimmen Schlag in den Rücken gespürt. Der ältere Herr am Steuer des anderen Wagens habe später «unwirsch, überhaupt nicht betroffen gewirkt». Ein 48-jähriger Autofahrer sagte: «Die Fußgänger waren links von mir, ich winkte sie rüber, dann hörte ich quietschende Reifen.»
Die Staatsanwaltschaft wirft dem Senior vor, «vorsätzlich grob verkehrswidrig und rücksichtslos falsch überholt zu haben». Laut einem Gutachten wäre die tödliche Kollision vermeidbar gewesen, wenn er Tempo 30 eingehalten hätte. Es wäre ihm auch bei einer höheren Geschwindigkeit möglich gewesen, rechtzeitig die Fußgänger zu sehen und zu bremsen. Im Prozess wird es auch um die Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten gehen. Die Verhandlung wird am 25. Juni fortgesetzt.
Copyright 2025, dpa (www.dpa.de). Alle Rechte vorbehalten